San Francisco, USA: „Es gibt einen riesigen Bike-Boom!“
01.04.2022 | Unterwegs in ...
In San Francisco geht es aufwärts: Immer mehr Straßen werden autofrei oder zu „Slow Streets“ erklärt – und damit sicherer für Fahrradfahrer. Das lockt vor allem Familien aufs Bike. Ein Familienvater hat jetzt die Radwege der Stadt im Stil von Skipisten kartiert.
Guten Morgen Jason! Warst du heute schon mit dem Fahrrad unterwegs?
Ja, sorry für die Verspätung, ich saß bis eben noch auf dem Bike! Ich habe das Load genommen, um meine beiden Kinder zur Kita zu bringen. Danach hatte ich noch ein Meeting und dann bin ich nach Hause gefahren. Mit unseren drei E-Bikes haben wir in den letzten 10 Monaten als Familie etwa 4.000 Meilen zurückgelegt, das sind mehr als 6.400 Kilometer. Das meiste davon mit dem Load. Es ist quasi unser „Auto“, so bewegen wir uns fort!
San Francisco scheint nicht gerade der ideale Ort zum Radfahren zu sein – ist die Stadt nicht geprägt von steilen Hügeln?
Es gibt viele steile Hügel, ja. Aber wenn man auf ein E-Bike steigt – dann wird die Stadt plötzlich flach! E-Bikes haben die Art und Weise, wie wir Fahrräder benutzen, komplett verändert. In San Francisco erleben wir zur Zeit einen riesigen Bike-Boom! Und die am schnellsten wachsende Gruppe von Fahrer*innen sind Eltern. Sie lieben es, mit ihren Kids dank elektrischer Unterstützung jeden Hügel ganz einfach erklimmen zu können.
Du lebst seit 2010 in San Francisco, hast aber während der Pandemie zwei Jahre im Ausland gelebt. Wie war es, zurück zu kommen?
Als ich 2021 zurückkam, hatte sich die Stadt radikal verändert, was das Radfahren angeht. Es gibt jetzt zwei neue Klassen von Straßen: sogenannte Slow Streets, die durch Wohnviertel führen und auf denen nur der lokale Anliegerverkehr zugelassen ist, und autofreie Straßen. Die autofreien Straßen sind zu den Hauptverkehrsadern durch die Stadt geworden für zu Fuß Gehende, Leute mit Kinderwagen und Radfahrer*innen auf E-Bikes und normalen Fahrrädern. Wenn man diese beiden Straßenzüge kombiniert, entsteht ein Routennetz, das es vorher nicht gab.
Wann hat sich das geändert?
Im Jahr 2020, als in den Vereinigten Staaten wegen der Pandemie der Ausnahmezustand eintrat und wir alle zu Hause blieben. Zu dieser Zeit wies die SFMTA, die Verkehrsbehörde von San Francisco, diese beiden neuen Straßentypen aus. Quasi über Nacht entstand ein Netz von sicheren Radwegen, auf denen man fahren konnte, ohne dass ständig die Gefahr bestand, von einem Auto angefahren zu werden. Ich hab' mich damals ganz neu in diese Stadt verliebt! Man fühlte sich plötzlich wie in den Niederlanden: Ich bin ganz allein auf dieser Straße, das ist so wunderschön!
Eine der wichtigsten autofreien Routen ist der John F. Kennedy Drive durch den Golden Gate Park. Wie fühlt es sich an, dort zu fahren?
Freude. Gelassenheit. Man kann zu fünft in einer Gruppe fahren und miteinander reden! Zu keinem Zeitpunkt fühle ich mich bedroht, zu keinem Zeitpunkt steht mein Körper unter Stress. Es ist buchstäblich friedlich! Ich kann die Vögel hören mich mit meinem dreijährigen Sohn unterhalten, der neben mir fährt. Wir spielen seit neuestem auch ein lustiges Spiel, wenn wir unterwegs sind: Fahrradmarken erkennen. Automarken konnte er schon gut erkennen, weil sie groß sind und Logos tragen. Er rief dann: Oh, Mercedes! Volkswagen! Aber ich hab ihm gesagt: Nein, lass uns die Fahrradmarken lernen - denn das sind die Marken, die uns interessieren.
Du hast ein Overlay für Google Maps erstellt, das San Franciscos Radwege im Stil einer Skigebietskarte darstellt. Wie bist du auf diese Idee gekommen?
Die ganzen lokalen Fahrradkarten zeigen die Radwege als identische Linien, aber nicht jeder Radweg ist gleich. Einige sind himmlisch, da kann mit meinem dreijährigen Kind sorgenfrei fahren. Bei anderen hingegen laufe ich sogar Gefahr, zu sterben, wenn ich nicht extrem vorsichtig bin. Ich wollte einfach eine Karte erstellen, auf der die sicheren und gefährlichen Strecken und alles dazwischen verzeichnet sind. Viele von ihnen musste ich dafür noch einmal abfahren, um herauszufinden, wo sich etwas geändert hatte und wo nicht. In der Bike Community tauschen wir uns über Routen aus, aber was ist mit der Mutter oder dem Vater mit Kind, die sich gerade zum ersten Mal ein Rad gekauft haben und die eher keine erfahrenen Radler sind? Aus diesem Grund habe ich diese Karte erstellt.
Die Karte ähnelt jenen, die man in Skigebieten findet.
Ja, dort muss jedem neuen Skifahrer, der noch nie auf diesem Berg war, kommuniziert werden: Wenn du Anfänger bist, probiere diese Piste. Wenn du schon etwas Erfahrung hast, probiere die hier. Wenn du Experte bist, nimm diese. Und ich dachte mir: Was, wenn ich dieses Konzept einfach auf Fahrradrouten anwende und sie farblich markiere, so wie bei Skipisten. Das erschien mir einfach intuitiv. Also bin ich mit meinen Jungs noch einmal losgezogen und habe sie kartiert und gezeichnet: Blau und Grün, das Netz der Slow-Streets und autofreien Straßen. Schwarz nur für Experten. Dann gibt es noch die roten, wie die Market Street: Links der Verkehr, rechts parkende Lieferwagen und in der Mitte die Bahngleise. Wenn man da mit den Reifen in die Bahngleise gerät – Gott steh dir bei! Aber konzentrieren wir uns nicht auf die Gefahren, sondern auf die neue, wunderschöne Strecke entlang des Ocean Beach: sie führt durch den Golden Gate Park und dann zur Bucht, und zwar fast ausschließlich auf sicheren Routen. Eine Strecke für die ganze Familie, sie ist wunderschön. Wenn Touristen sie erst einmal entdeckt haben, wird sie sicher zu einer Hauptattraktion der Stadt.
Was ist mit der Golden Gate Bridge – ist sie als sichere Route ausgewiesen?
Ja, an Wochentagen zwischen 15 Uhr und Sonnenuntergang und an jedem Wochenende ist eine Seite der Brücke nur für Radfahrer vorgesehen. In der übrigen Zeit teilen sich Fußgänger und Radfahrer eine separate, geschützte Fahrspur. Es gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 15 mph, das sind knapp 25km/h. Es ist einfach wunderschön und die Aussicht ist atemberaubend. Ich kann sie sowohl als Tourist als auch als täglicher Pendler sehr empfehlen!
Vielen Dank für das Gespräch, Jason!
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San Francisco hat im Frühjahr 2020 mehr als 70 Kilometer Straße in autofreie Zonen und sogenannte „Slow Streets“ umgewandelt. Ursprünglich als vorübergehende Maßnahme im Zuge des Pandemie-Notstands geplant, könnten einige Strecken nun dauerhaft verkehrsberuhigt bleiben.
Prominentestes Beispiel ist der John F. Kennedy Drive: Die Hauptverkehrsstraße führt von Westen nach Osten durch den Golden Gate Park, die grüne Lunge San Franciscos. Nachdem der rund 2,4 Kilometer lange JFK Drive autofrei wurde, stieg die Popularität des Parks nochmals deutlich an. Jüngst sprachen sich mehr als 70% der Bürger*innen für eine dauerhafte Schließung für Autos aus. Nun muss die Stadtverwaltung entscheiden.