Changing Cities: Welcome to San Francisco.
01.08.2023 | Mobility
Mit Slow Streets, autofreien Routen und der Neuentdeckung eines Parks zeigt San Francisco, wie die Straßen von morgen aussehen könnten, und erobert sich auf diese Weise eine natürliche Mobilität zurück.
Hauptverkehrsadern, die unfassbar steil ansteigen. Klippenartige Kreuzungen, an denen Autos in Seitenstraßen abtauchen. Gehwege mit Gefällen so stark, dass man Treppenstufen braucht: San Francisco, die Stadt der Hügel und steilen Straßen, ist ein beeindruckender Ort der Extreme – und das Fahrrad ist sicher nicht das erste Verkehrsmittel, an das man hier denkt.
Und doch erlebt die Stadt an der Westküste Amerikas zurzeit einen regelrechten Bike-Boom. Auslöser: sich wandelnde Straßen.
Wie diese Verkehrswende aussieht, zeigt ein Nachmittag im Golden Gate Park. Die grüne Lunge der Stadt durchzieht der John F. Kennedy Drive, eine gut 5,5 km lange Hauptstraße. Ein Teil davon ist seit Mitte 2020 autofrei und mittlerweile Treffpunkt schlechthin für alle, die joggen oder Fahrrad fahren wollen, die auf Inlinern oder Skateboards unterwegs sind.
Hier, auf der JFK „Promenade”, gibt es endlich genügend Platz für alle, es ist ruhig, sicher und friedlich. Die Menschen kommen einzeln und als Familien, sie treten miteinander in Kontakt, fahren als Gruppe nebeneinander Fahrrad und unterhalten sich. Alles inmitten einer Parklandschaft aus Seen, Wiesen und Waldstücken. Eine einmalige Atmosphäre.
Der autofreie JFK Drive ist Teil eines neuen Netzwerks geschützter Straßen, von Car-free und Slow Streets. Ein Programm, das von der lokalen Straßenverkehrsbehörde SFMTA während des Corona-Lockdowns im April 2020 initiiert wurde, eine Sofortmaßnahme, aber mit weitreichenden Folgen.
In kürzester Zeit wurden mit Hilfe von Schildern und Barrikaden dutzende Slow Streets eingerichtet und vom Durchgangsverkehr befreit, zahlreiche Hauptrouten wurden sogar komplett autofrei. Wo Radfahren bis vor Kurzem zu gefährlich war, entstanden so mit einem Mal sichere und zusammenhängende Fahrradrouten von einem bis ans andere Ende der Stadt. Rund 80 km in kürzester Zeit – die größte Veränderung des Straßenbildes seit Jahrzehnten.
In der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Ein Wandel, der nicht ohne Gegenwind vonstattenging. Bei Autobesitzer*innen in den betroffenen Vierteln regte sich Widerstand.
Zuletzt wurde sogar die ursprünglich vorübergehende Sperrung des JFK Drive politisch kontrovers diskutiert. Forderungen nach einer erneuten Öffnung für Autos verhinderte aber eine Mehrheit der Bürger*innen San Franciscos bei einer Abstimmung am Rande der Midterm-Wahlen 2022. Ein deutliches Zeichen dafür, dass Stadtbewohner*innen eine Neuverteilung des öffentlichen Raumes fordern.
San Franciscos Bike-Community wächst und daran haben zweifelsohne auch E-Bikes ihren Anteil. Denn wenn man auf ein elektrisch unterstütztes Fahrrad steigt, dann wird die Stadt auf einmal flach.
Plötzlich sind es nicht mehr nur sportlich orientierte Bike-Enthusiasten, die auf Rennrädern und Gravelbikes die Hügel in der Stadt und um sie herum erklimmen. Das Fahrrad als alltägliches städtisches Verkehrsmittel ist in San Francisco angekommen, ob als E-Citybikes, Tourenräder oder Cargo-Bikes, von denen insbesondere Familien profitieren.
Denn nie war es einfacher und sicherer, durch die Stadt zu kommen, ohne sich um Stau und Parkplatzsuche Gedanken machen zu müssen.
Interview
„Fahrradläden sind die Autohäuser des 21. Jahrhunderts.”
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San Francisco hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Wann ist dir das zum ersten Mal bewusst geworden?
Ich erinnere mich, dass im März 2020, in den ersten Tagen der Pandemie, die Straßen ganz ruhig waren. Die Luft war ungewöhnlich frisch und mild. Es herrschte ein ausgeprägtes Gefühl der Ungewissheit, aber die Ruhe ermöglichte es einem, die Schönheit unserer Umgebung zu spüren. Wenn ich nach draußen ging, hatte ich das Gefühl, dass es hier einen neuen Raum und eine neue Chance für positive Veränderungen gab.
Welche Rolle spielt deiner Meinung nach politische Führung bei der Umgestaltung einer Stadt?
Was wir an Veränderungen in den letzten zwei Jahren auf den Straßen San Franciscos gesehen haben, war nicht unbedingt das Ergebnis von Politiker*innen. Es war vielmehr das Werk von Einzelnen – allen voran Freiwillige und Mitarbeiter*innen in der Stadtverwaltung. Aber um einen groß angelegten Wandel herbeizuführen, braucht es eine starke und visionäre politische Führung. Nur dann können die Straßen für uns Menschen sicher und nützlich werden – und Spaß machen. Eine deutlich überwiegende Zahl der Wähler*innen unterstützt autofreie Straßen wie im Golden Gate Park oder am Great Highway. Ich bin zuversichtlich, dass mit diesem Votum in Zukunft neue Politiker*innen auftauchen werden, die sich wirklich für nachhaltige Verkehrskonzepte und die Belange von Radfahrer*innen einsetzen.
Wie würdest du die lokale Fahrrad-Community beschreiben?
Die Fahrradkultur in San Francisco hat eine starke Geschichte und eine ganz eigene DNA. Früher waren Radfahrer*innen vor allem zwei Dinge: stark, um die Hügel zu erklimmen, und zäh, um den gefährlichen Verkehrsbedingungen zu trotzen. Das hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren geändert. Dazu beigetragen haben sicherlich E-Bikes und die zunehmende Fahrradnutzung von Pendler*innen und Familien. Während der Pandemie erlebten wir dann einen Wendepunkt – motiviert durch das Bedürfnis, aus den eigenen vier Wänden herauszukommen und kreative Wege zu finden, um im Freien zu sein. Viele der neuen Radfahrer*innen sind noch dabei, die Regeln und Rituale der Fahrrad-Community zu erlernen. Jetzt gilt es, diese neuen Radfahrer*innen einzubeziehen und zu unterstützen, um noch mehr Fahrräder auf die Straßen zu bringen. Es gibt noch viel zu tun!
Was wünschen sich typische Neukund*innen heute im Vergleich zu früher?
Die Anforderungen unserer Kund*innen wachsen ganz klar. Während jemand vor fünf Jahren vielleicht nur mit dem Fahrrad zur Arbeit pendeln wollte, möchte er oder sie heute zusammen mit den Kindern unterwegs sein, zum Einkaufen fahren oder Dinge des alltäglichen Lebens erledigen. Wir beobachten eine massive Zunahme von Cargo-Bikes in unserer Stadt. Es ist jetzt fast unmöglich, irgendwo in der Stadt hinzugehen, ohne ein Load zu sehen!
Wie kann die Fahrradindustrie mit ihren Produkten dazu beitragen, eine Stadt zu verändern?
Indem Fahrradhersteller verstehen, dass das Produkt nicht nur die physische Sache ist, sondern auch das Erlebnis. Deshalb sind neue Dienstleistungen wie GPS-Tracking, eine integrierte Diebstahlsicherung und generell eine hohe Lebensdauer des Produkts und der Teile so wichtig.
Was ist die Rolle eines modernen Fahrradgeschäfts?
Bei The New Wheel verstehen wir uns als Autohaus des 21. Jahrhunderts. Unsere Aufgabe ist es, das Fahrrad zu einem einfachen, bequemen und zuverlässigen Verkehrsmittel zu machen. Wir wollen die Menschen dazu bringen, aus dem Auto auszusteigen und aufs Fahrrad umzusatteln.
Dieses Stadtporträt ist Teil des Riese & Müller Verantwortungsberichts 03.